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Aktualisiert am 18.06.10

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Text des Monats >> Rückblick >> Mai 2006



Janna Steenfatt

Marilyn

Sie singen wieder. Sie sitzen auf den Stufen vor dem Brunnen, in dem schon lange kein Wasser mehr fließt, singen alte Schlager und schunkeln ihre Schnapsflaschen im Arm. Doppelkorn, den mit dem roten Etikett, den billigsten. Das kann ich sogar von hier oben sehen, aber ich muss es gar nicht sehen. Ich weiß es. Ich habe dem Dicken drei Liter verkauft, erst gestern. Später wird er wieder kommen, sie alle kommen mehrmals am Tag. Er wird seinen Doppelkorn und die Bierdosen und ein paar Kurze auf das Band legen und mir schnaufend das abgezählte Kleingeld in die Hand drücken. Seine Finger sind wie raue, gelbe Würste und unter den Nägeln schwarz. Ich muss aufpassen, dass sie meine Hand nicht berühren.

Sie singen und Marilyn tanzt. Sie tanzt, hält die Flasche im Arm, wie ein Kind, dreht sich in kleinen, schwankenden Kreisen über den Platz und ihre weißen Haare fliegen in alle Richtungen. Der Dicke klatscht sich auf die Schenkel und lacht. Er lacht über Marilyn, alle lachen, Marilyn interessiert das nicht. Den Namen hat sie sich ausgesucht, weil sie sich für die Reinkarnation von Marilyn Monroe hält. Ich sage ihr nicht, dass es Unsinn ist. Wenn sie so alt ist, wie sie aussieht, muss sie schon längst auf der Welt gewesen sein, als die Monroe gestorben ist.

Der Himmel ist heute ohne Farbe. Die Luft drückt. Das Telefon klingelt nicht, das Telefon klingelt nie. Frau Böhse kocht Kohlrouladen, der Geruch weht bis an mein Fenster herauf, mir wird ein wenig übel davon. Auf der Fensterbank liegen Lacksplitter. Das Silikon zwischen der Fensterscheibe und dem Rahmen ist bröselig. Auch die Wände zeigen Alterserscheinungen. Frau Böhse sagt: das Haus löst sich auf. Ich schiebe die Lacksplitter mit dem Daumen zu kleinen Haufen zusammen. Hinter den Lacksplitterhaufen liegen die Fliegen, die ich nicht anrühre, neun sind es inzwischen. Sie krümmen ihre Beinchen in die Luft und sehen ganz heil aus. Ich frage mich, woran die sterben. Ob sie ersticken, weil sie nicht mehr hinaus finden, verhungern, verdursten, oder ob so ein Fliegenleben ganz einfach aufhört, plötzlich und zufällig auf meiner Fensterbank.

Das Herz der Maria Bar leuchtet rot und kraftlos, im Eingang raucht eine blondierte, längst nicht mehr junge Hure eine Zigarette, stemmt die Arme in die Hüften und streckt ihre ohnehin ausladenden Brüste vor. Um diese Tageszeit geht das Geschäft nicht gut, die Geschäftsleute und Familienväter sitzen in ihren Büros, Touristen verirren sich selten in diese Gegend. Auf der anderen Seite des Platzes laufen die lateinamerikanischen Transvestiten mit vor den falschen Brüsten verschränkten Armen auf und ab und schicken feindselige Blicke hinüber zu den Huren der Maria Bar, das Revier ist markiert, unsichtbare Linien grenzen die Hoheitsgebiete verschiedener Luden und freiberuflicher Cracknutten von einander ab. Die Afghanen stehen am Rand des Platzes und gucken. Der Mann von Kabul Records steht vor seinem Laden und ruft ihnen Dinge zu und sie antworten und lachen und streichen sich die Bärte. Der Mann von Kabul Records kennt mich nicht, aber er wünscht mir jeden Tag einen schönen Tag, ich wünsche Ihnen eine schöne Tag, schöne Frau, einmal hat er mir eine Kassette geschenkt, Sound of America stand darauf, die Musik klang traurig und fern, eine Frau hat gesungen, es hat sich angehört, als weinte sie.

Der Supermarkt ist gleich um die Ecke, schräg über den Platz, gegenüber der Tankstelle. Die Arbeitskleidung bekomme ich gestellt. Ich ziehe das orangefarbene Sweatshirt schon zuhause an, der gelbe Kringel mit dem Schriftzug leuchtet auf der Brust. Penner-Penny, sagt Frau Böhse, weil Marilyn und die anderen ihre Schnapsflaschen und die Kunststoffkartons mit dem billigen Rotwein manchmal direkt vor dem Laden austrinken. Dann läuft der Chef hinaus und brüllt, sein Gesicht sieht wie ein Granatapfel aus. Die Afghanen trinken nicht. Die Afghanen lachen über

sie und hören seltsame Musik.

Frau Böhse schimpft. Sie wischt die Hände an ihrer Kittelschürze ab, dreht den Kopf über die Schulter und verzieht das Schwammgesicht. Jedes Mal versuche ich, mich an ihrer Tür vorbei zu schleichen, aber es ist sinnlos, Frau Böhse hört das Gras wachsen. Klein-Kabul, sagt Frau Böhse. Alles fest in afghanischer Hand, hier. Passen se auf, mit denen is nich gut Kirschen essen. – Nomen est Omen, könnte ich sagen, sage ich lieber nicht.

Ich bin überpünktlich, um noch eine zu rauchen, draußen vor dem Lieferanteneingang im Hof, wo es nach Pisse riecht und später nach Haschisch, manchmal liegt einer in der Einfahrt, der wie tot aussieht und es nicht ist. Aber heute nicht. Ich zähle die Satellitenschüsseln an den gelben Balkons gegenüber, zehn Schüsseln an zwölf Balkons. Die Balkons sind vergittert, wie Käfige, auf dem untersten sitzt eine gestreifte Katze. Ayla kommt zu spät, Ayla kommt immer zu spät. Der Chef knallt die Tür auf und schreit mir zu, ob ich Frau Bayram gesehen hätte und dass dieselbe einiges erleben könne, wenn sie nicht umgehend, dann hetzt Ayla auf den Hof und ich lasse die Zigarette fallen, schiebe sie mit der Schuhspitze in den Gully, hole tief Luft und folge ihnen. Der Chef läuft vor, er rennt beinahe. Ayla zieht sich im Gehen das orangefarbene Sweatshirt über und dreht sich feixend zu mir um, dann muss sie Kerstin an der Kasse ablösen und ich muss Erbsensuppe mit Bauchspeck nachlegen. Ich schiebe die Dosen ins Regal, zwölf Dosen auf einer Palette, ich drehe sie so, dass die Etiketten nach vorn zeigen, das muss ich nicht machen, aber es sieht ordentlicher aus. Zwölf Dosen, zwölf Balkons. Manchmal ist alles gleich.

Eine dicke, traurige Frau fragt nach fettarmem Joghurt. Dicke, traurige Frauen kaufe immer Cola, Chips, Eierlikör, Schokolade und Diätjoghurt, ich finde das rührend.

Vor dem Schnapsregal stehen drei junge Türken, einer schiebt sich eine Flasche Wodka in die Hose und sieht mich ruhig an. Ich gehe ins Lager, um mehr Suppendosen zu holen.

Am Abend stehen wir vor dem Laden und rauchen, Kerstin sagt, der Chef wolle Ayla raus schmeißen und Ayla macht ihren Zopf auf, lächelt überlegen und sagt: das traut der sich nicht. Ayla hat gute Nerven, Kerstin hat immer Rückenschmerzen und drei Kinder von zwei Männern. Kerstin nimmt Ayla im Auto mit, Ayla küsst mich zum Abschied auf beide Wangen und hüpft hinter Kerstin zum Parkplatz.

Marilyn wartet auf den Stufen vor dem Hauseingang auf mich, wie jeden Abend. Das Licht aus der Leuchtstoffröhre über der Tür leuchtet blau, damit man die Adern nicht findet. Ich war eine traurige Frau, sagt Marilyn und lächelt. Eine sehr, sehr traurige Frau. Sie summt, diamonds are a girls best friend und malt mit dem Finger unsichtbare Zeichen auf den porösen Beton. Diamantenlied, sagt Marilyn, irgendetwas mit Diamanten, den Rest habe ich vergessen, es ist zu lange her. Sie seufzt und legt den Kopf auf die Schulter. Ich packe meine Tasche aus und gebe ihr die Sachen, Brot, Käse, Saft, Äpfel, Schokolade. Marilyn sagt: sogar Schokolade. Sie steckt lächelnd die Sachen in ihren zerschlissenen Beutel und läuft eilig davon.

Asozial, sagt Frau Böhse. N´Abend, sage ich und steige die Treppen hinauf, acht Treppen, das sind vier weniger als zwölf, zehn Stufen pro Treppe, das sind zwei weniger, Frau Böhse sieht mir hinterher, sie hat immer noch die Kittelschürze an, die zieht sie nicht aus, wahrscheinlich schläft sie darin, falls sie überhaupt jemals schläft.

Bevor ich schlafen gehe, füttere ich die Fische. Ich brösele die kleinen, bunten Flocken durch den Schlitz, sie landen auf der Wasseroberfläche,

die Fische nippen hastig daran. Ich stecke meinen Finger in das Wasser

und ziehe ihn schnell wieder zurück. Fische sind grausame Tiere. Neulich hat eines der Guppyweibchen Kinder bekommen und die anderen standen mit offenem Maul darunter. Der Wels saugt an der Scheibe. Ich grusele mich ein Bisschen vor ihm. Er sieht hässlich aus und böse, obwohl er nichts dafür kann. Es gibt Menschen, die Welse essen, ich esse nicht einmal Fischstäbchen.

Am Morgen ist die zehnte Fliege gestorben und zwar mitten im mittleren Lacksplitterhaufen.

Sie kann dort nicht liegen bleiben. Ich nehme einen Stift und schiebe sie vorsichtig zur Seite, zu den anderen. Mit Hilfe des Stifts ordne ich die Fliegen in einer schnurgeraden Reihe an. Sie sehen alle gleich aus.

Frau Böhse schrubbt die Stufen, sie riecht nach Putzmittel und Schweiß, ich halte die Luft an, als ich mich an ihrem runden, geblümten Körper vorbei drücke, sie ruft mir etwas hinterher, aber ich bin schneller. Der Mann von Kabul Records wünscht mir einen schönen Tag, ich bin spät dran und nehme die Abkürzung über den Müllplatz hinterm Theater.

Der Chef hat schlechte Laune, sein Kopf schwillt den ganzen Vormittag über nicht ab. Ayla muss ins Büro kommen. Marilyn und die anderen stehen vor dem Laden, Marilyn legt das Gesicht an die Scheibe und winkt, dann kommt der Chef und fuchtelt mit den Armen. Der Dicke kauft Doppelkorn und Bier, er zählt das Geld in meine Hand und stinkt, ganz kleines Kupfergeld, es dauert lange, die Frau hinter ihm tritt geräuschvoll von einem Fuß auf den anderen, sie kauft ACE-Drink und eine Grapefruit, sie behält die Sachen in der Hand, anstatt sie auf das Band zu legen, ihre verkniffenen Lippen glänzen, ihre Haut ist gerötet. Dann klingelt ihr Handy und die Grapefruit fällt auf den Boden, der Dicke lacht laut und zum ersten Mal mag ich ihn fast.

Wenn der Chef besonders schlechte Laune hat, sind Raucherpausen

keine gute Idee. Der soll sich nicht aufregen, sagt Ayla und zieht mit der

Spitze ihres Turnschuhs Muster in den schmutzigen Sand. Zwölf Balkons, zehn Satellitenschüsseln, keine Katze, dafür eine rothaarige Frau, die Wäsche aufhängt. Die Tür des Lieferanteneinganges öffnet sich, Ayla wirft die Zigarette weg und streicht sich über die Haare, Kerstin streckt den Kopf heraus, schaut mich an und sagt: du sollst ins Büro kommen.

Der Chef steht am Fenster und wippt auf den Zehenspitzen, über seinem Schreibtisch hängt ein Poster, ein roter Ferrari, alles sonst ist weiß und abwaschbar, die Wände, der Schreibtisch, der Kittel, der Chef dreht sich langsam um, tippt mit dem Zeigefinger gegen seine Brille, in seiner Brusttasche stecken vier Kugelschreiber. Er wisse nichts genaues, er hätte Frau Bayram im Verdacht, er streicht mit den Handflächen über den Granatapfelkopf, das fehlende Geld in der Kasse, beinahe jeden Abend, ob ich verstünde, was das für ihn hieße. Die Wanduhr hat einen Sprung im Glas, ich zähle die Kacheln an der Wand, es sind viel zu viele. Kein Geld, denke ich, Brot, Milch, Obst, Käse, sogar Schokolade, aber nie Geld, der Chef sieht mich scharf an, sein Adamsapfel fährt ruckartig auf und ab, fast rhythmisch, ich muss lachen und beiße mir auf die Lippe und denke an die toten Guppykinder, ich weiß nichts, sage ich.

Sie singen Norma Jean wants to be a movie star und lachen. Marilyn tanzt nicht, sie sitzt auf den Stufen und sieht in dem blauen Licht wie ein Gespenst aus. Komm, sage ich.

Hinter Frau Böhses Wohnungstür raschelt etwas, wir beeilen uns und ich vergesse, die Stufen zu zählen. Marilyn bleibt im Flur stehen und schaut die Fische an. Sie legt den Finger gegen die Scheibe, dort, wo der Wels gerade ist. Warum macht der das, fragt sie. Er macht die Scheibe sauber, sage ich, dann brauche ich es nicht zu machen. - Das ist ein netter Fisch, sagt Marilyn. Ich kippe die Erbsensuppe aus der Dose in den Topf, stelle zwei Teller hin und einen Korb Weißbrot.

Marilyn steht im Flur vor dem Spiegel und streicht sich fest über das strähnige, weiße Haar. Ich war eine traurige Frau, sagt sie. Essen ist fertig, sage ich. Marilyn sieht in ihren Teller, ihre Augen glänzen. Sie nimmt das Brot und tunkt es in die Suppe. Hier, sagt Marilyn, schau. Sie kramt in ihren Taschen und zieht ein zerknittertes Stück Hochglanzpapier hervor, eine Seite aus einer Illustrierten, sie streicht das Bild glatt und hält es gegen das Licht. Dorthin, sagt Marilyn, dorthin fahre ich, bald. Undeutlich erkenne ich das Foto der Buchstaben in den Hollywood Hills.

Sie singen nicht mehr. Es ist kälter geworden. Die Huren der Maria Bar frieren, die lateinamerikanischen Transvestiten fluchen und spucken auf den Gehsteig.

Ayla kommt nicht, Kerstin sagt, sie sei krank. Frau Böhse schimpft auf das Wetter. Die Afghanen trinken Tee. Die Fliegen liegen still auf der Fensterbank, es sind immer noch zehn, vielleicht ist es ihnen inzwischen zu kalt zum Sterben.

Marilyn ist nicht mehr da. In meinem Briefkasten liegt ein Bild, zerknittert, aus einer Illustrierten heraus gerissen: die Hollywood Hills. Ich hefte es neben das Fenster.

(Mit diesem Text gewann Janna Steenfatt aus Leipzig (* 1982) im September 2005 den Publikumspreis beim 15. Hattinger Förderpreis. Der Text erschien zuerst in „lauter niemand“, Berliner Zeitschrift für Lyrik und Prosa, Ausg. 6, September 2005 und in „tippgemeinschaft“, Jahresanthologie der Studierenden des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, 3/2006.)