Kubischu Kulturinitiative Hattingen Ruhr

Portrait Kubischu

Kontakt

Impressum

Links


Aktualisiert am 18.06.10

Rundbriefe

.. Aktuell

.. Rückblick

Veranstaltungen

.. Aktuell

.. Rückblick (Auswahl)

Literaturtage

... Rückblick 2008

... Rückblick 2007

... Rückblick 2006

... Rückblick 2005

... Rückblick 2004

... Rückblick 2003

... Rückblick 2002

Förderpreis

.. Aktuell

.. Rückblick 2009

.. Rückblick 2008

.. Rückblick 2007

.. Rückblick 2006

.. Rückblick 2005

.. Rückblick 2004

.. Rückblick 2002

.. Ausschreibung

.. Publikationen

Kulturbühne

Text des Monats

.. Aktuell

.. Rückblick


Text des Monats >> Rückblick >> Oktober 2002


Marie Martin (Jury-Förderpreisträgerin der Literaturtage 2002)

Liebe in Zeiten der Adoleszenz

Ich erschuf mir einen Freund.

Er wartete jeden Morgen auf mich und ging das immer schwerer zu gehende Stück bis ins Schulhaus mit.

Bereits auf dem Gang wurde es schwierig für ihn, bei mir zu bleiben.

Ich malte mir aus, wer im Klassenzimmer sitzen würde. Was sollte ich dem Hohn erwidern?

Ich wollte zwischen den engen bekritzelten Toilettenwänden auf den Gong warten.

Meine Augen waren groß und erschreckt.

Meistens wich er nicht von meiner Seite und ich liebte ihn über alles.

Wenn wir getrennt waren, schrieb ich ihm Briefe.

Ich kannte seine gesamte Garderobe und wusste was er las.

Er liebte Pferde wie ich, das war klar.

Wie schön, dass wir uns gefunden hatten.

Ich brauchte so dringend ein Gegengewicht. Ich wog so schwer gegen die Klasse.

Zu viel hing wie Steine an meinen Füßen. Ich fiel so schnell, dass ich immer zu spät merkte, welchen Fallschirm ich aufspannen musste.

Sie waren ironisch, ich glaubte alles.

Ich las, sie sahen fern. Ihnen wuchsen Brüste, mir Worte.

Sie sammelten Kondome, ich Traumkugeln.

Eigentlich liebte ich noch immer meine PirateninseI von Playmobil mit Schatzhöhle und meine schwarze Lego-Ritterburg.

Sie machten Petting und ich hatte einen Freund, der morgens vor der Schule auf mich wartete.

Sie schminkten sich zähnebleckend im Unterricht. Sie wurden nicht rot in Sexualkunde.

Sie trällerten kreischend Webetexte in der Umkleidekabine wo sie sich nicht schämten.

Sie machten mir Angst.

Sie saßen weinend auf der Heizung und wurden von Freundinnen umringt. die alle Bescheid wussten.

Aber ich hatte ja einen Freund.

Ich traute mich nicht, eine Bravo zu lesen.

Ich weinte ständig.

Ich wusste genau, dass ich da unten missgebildet war und es nie passieren würde.

Ich fragte mich ständig, wie das faktisch eigentlich passieren konnte.

Alle wussten es. In meiner Beziehung spielte das keine Rolle.

Ich fand es widerlich und widernatürlich, dass Menschen einfach so Körperteile ineinandersteckten.

Mein Freund hatte eine sanfte Ausstrahlung. Wenn ich an ihn dachte, wärmte es mich von innen. Ich wurde Ritter Lancelot untreu. lch stopfte die Briefe an ihn tief in eine

Schublade. lch hatte sie mit einer Feder auf handgeschöpftes Papier geschrieben.

Ich sprach nie mit Jungen. Sie verhöhnten mich nur. Ich fand es schade. dass ich den Rest meines Lebens ohne den Kuss eines anderen verbringen würde. Ich war tapfer.

Am liebsten hätte ich geschrien. Das hatte ich noch nicht einmal als Säugling getan.

Ich war so still. Ich war immer still.

In der Klasse passte ich auch bei Unruhen höllisch auf, dass ich alles mitbekam.

Ich zitterte aus Angst, ich könnte eine Frage nicht beantworten.

Meine Augen waren groß und erschreckt. Dann fing Ich an zu schreien.

Ich schrie. Hängt ihn auf die dumme Sau. Mach das Scheißding in die Kiste. Ich schrie.

Renn du Idiot. Ich grölte. Ich trank Bier. Ich soff. Ich boxte mich durch Menschen und pöbelte in der Straßenbahn. Ich sah fern. Ich war in einen Fußballspieler verliebt der noch schöner war als Lancelot. Ich wurde Fußballfan.

Ich fuhr biertrinkend In Bussen durch Deutschland um mir miese Kicks in verregneten Stadien anzusehen. Ich wurde mit trommelnden Leuten aus Kneipen hinausgeworfen.

Ich fuhr mit Sonderzügen in denen der Boden klebrig war von Bier und alle sangen.

Ich las den Kicker. Ich wurde geküsst. lch küsste.

Ich küsste mich durch die facettenreiche Gesellschaft der Fußballfans.

Wir stiegen nachts über den Stadionzaun und legten uns auf den nassen Rasen.

Ich betrachtete die Sterne. Wir wälzten uns unter Mannschaftspostern und auf der Rückbank von Fanbussen. Wir tauschten speckige Schals und verschwitzte Trikots.

Bald waren wir selber ganz speckig von der Knutscherei.

Dann verliebte ich mich wieder. Ich war in eine Punkerin verliebt.

Ich wurde auch Punk.

Ich schleuderte angeekelt meine Schultasche auf den Tisch und pöbelte die Lehrer an.

Ich bastelte mir einen Ohrring aus einer Bierdose.

Ich schlurfte in Stiefeln und mit einem Halsband durch die gegnerische WeIt.

Ich genoss die befremdlichen Blicke in der Straßenbahn.

Meine Angebetete verfilzte meine Haare zu dreckigen Raupen.

lch erschauerte wegen der Finger auf meiner Kopfhaut.

Ich hasste ihren Freund auch wenn er den schönsten Irokesenschnitt hatte.

Lärmende vibrierende Musik durchfuhr uns in alten Kellern.

Bei den tollsten Konzerten saßen wir auf dem nächtlichen Bürgersteig, weil die Leute von der Straße kein Geld für den Eintritt haben. Von drinnen wummerte die Musik, draußen redeten und brüllten alle durcheinander. Die Hunde bellten. Bierdosen kollerten auf dIe Straße. Ein betrunkenes Paar kreischte sich an. Er trat sie, obwohl sie schon am Boden Iag. Meine Augen waren wieder groß und erschreckt.

Vor allem fürchtete ich aber, dass es passieren könnte.

Mein Freund zerkratzte nachts Mercedeswagen oder streichelte mich.

Auf einmal saß Ich In der Falle. Ich hatte Ja gesagt.

Wie war ich eigentlich In dieses Bett gekommen. ln diese Arme, unter diese Zunge.

Der Kondom-Automat war gleich um die Ecke. Ich geh schnell sagte er und zog sich an.

Ich war starr vor Angst. Meine Augen waren riesig und aufgerissen.

Lieber Gott er soll beim Kleingeldsuchen einschlafen. Ich betete. Ein räudiger Hund soll ihn anfallen. Er soll sich den Knöchel brechen.

Ich wartete. Ich war still. Er stand wieder neben dem Bett. Der Automat war kaputt.

Ich war gIäubig geworden.

lch wagte nicht dieses Mädchen zu küssen. Ich küsste wieder einen Punk.

Er hatte eine politische Vergangenheit. Er fürchtete die Rechten.

Sie hatten ihm Aufnäher von der Jacke gerissen und verbrannt.

Sie hatten gedroht, ihn nächstes Mal totzuschlagen.

Diesmal wärmte mich wirklich dieses Gefühl. Ich saß auf seinem Gepäckträger im Gewitter und hatte keine Angst. Er machte mir ein Herz aus dem gleichen Stoff wie die Flicken seiner Jacke. Er nahm mir Kassetten auf damit ich keine Hippiemusik mehr hörte.

Wir feierten eine wilde Party im Haus meines Kumpels und meine beste Freundin schmiss ein rohes Ei auf das Dach des Nachbarhauses. Wir warfen schreiend Kissen und Bettzeug aus den Fenstern und grillten auf dem Bürgersteig. Alles ging zu Bruch.

Er fand meine Freunde vieI lustiger als seine.

Nachts gingen wir spazieren.

PIötzIich waren sie da. Da sind sie sagte er ganz ruhig. Lauf.

Ich hörte das GejohIe und hatte Angst. Zum ersten Mal hatte ich wirkliche nackte Angst.

Ich konnte nicht schnell rennen. Ich konnte das nicht verstehen. Ich hatte solche Angst davor, was sie mit mir machen würden. Ich dachte nur an mich. Ich dachte nur daran.

Immer nur daran.

Wir keuchten. Wir kletterten über die Friedhofsmauer und ich hatte solche Angst, dass mich der Friedhof nicht mehr schauderte.

Später dachte ich über den Grund nach. Meine Augen waren groß und erschreckt.

War das Politik? Ich hatte keine Ahnung von Politik.

Ich passte dort genausowenig auf wie in Geschichte. In der Zeitung las Ich nur den Sportteil, denn Ich war ja immer noch Fußballfan.

Geschichte hatte mich nur bis zu den Rittern interessiert. Lancelot hatte ich vergessen.

Ich schrieb auch nicht mehr. Ich bekam zum ersten Mal ein schlechtes Zeugnis-

Ich machte keine Hausaufgaben mehr. Ich flog aus dem Unterricht. Beim Nachsitzen schrieb ich Liebesbriefe. Es gab Anrufe bei meinen EItern. Ich schwänzte den Unterricht um in der Sonne zu sitzen und Mousse au Chocolat aus Plastikbechern zu lecken oder Wodka auf dem Bouleplatz zu trinken. lch kam betrunken zu einer Deutschklausur und schrieb enthusiastisch am Thema vorbei. Rechtzeitig vor dem ersten Mal war meine Beziehung zu Ende.

Im künstlichen Nebel einer Silvesterparty küsste ich wieder. Er trug einen Anhänger um den Hals mit einem Stern. lch starrte darauf als hätte ich mich verbrannt.

Schön sagte ich lahm. Ja, ich bin Jude, sagte er. Er nahm mich mit in die Synagoge.

Ich musste kurz auf ihn warten. Ich fühlte mich steif. Wie in einer fremden Wohnung, wo man keinen Schritt auf den feinen Teppich wagt. Ich konnte das nicht verstehen.

Warum war ich so verlegen? Ich fragte ihn nicht mehr, denn er legte mich auf sein Bett und ich floh. Es wurde schwieriger die Männer nur zu küssen.

lch dachte immer an diesen Stern.

Dann verliebte ich mich wieder. In einen kanadischen Dichter und DJ. Er schenkte mir blaue Rosen. Er fragte mich über das politische System in Deutschland aus und ich konnte ihn nur küssen. In seinem Tagebuch stand alles auf dem Kopf am Tag unserer

Begegnung. Wir schrieben uns Briefe und Gedichte. Eigentlich war er schwul.

Wo hast du so küssen gelernt fragte er.

Seine Briefe waren die schönsten Geschenke. Ich schrieb weiter, als keine Antworten mehr kamen. Ich schrieb.

Ich hörte wieder meine Hippiemusik und trug statt des schwarzen zerrissenen T-Shirts mit dem Maschinengewehr einen Strickpulli mit einer Sonne auf der Brust.

Endlich wurde ich sechzehn. Sweet Sixteen sang Chuck Berry auf einer Kassette, die ich bekommen hatte. Ich hörte immer dieses Lied.

Wie süß war sechzehn. lch betrank mich zum ersten Mal bis zur Bewusstlosigkeit aus Kummer. Mit Whiskey.

Und ich hatte zum ersten Mal Sex. Mit einem Mann.

Ich fragte mich nicht, was ich in seinem Bett machte. Ich wollte nie wieder fort.

Ich lernte erst nach Jahren, dass er nicht mein Gegengewicht war.

Ich verliebte mich. Wieder und wieder. In fremde Städte.

In Zügen, auf Bahnhöfen und in Bars erblühten kurze Gespräche. Oh, you´re German?

Bevor wir über die Lieblingsbands sprechen fragen sie nach Hitler.

Ich lernte nur mühsam, dass Ich kein Gegengewicht brauchte.

lch hatte nie zugehört in Politik, weil ich nicht wusste, worüber sie sprachen.

Jetzt wunderte ich mich, warum niemand die einfachen Fragen beantworten konnte.

lch redete und redete. Bald hielt ich Ansprachen in der Fünf Minuten-Pause.

Ich las Zeitung. Meine Augen waren groß und erschreckt.

Ich schleppte in meiner Handtasche Faltblätter für Demos und Vorträge mit mir herum.

Eine Freundin war auf einmal in der rechten Partei. Ihr Freund war aktiv.

lch konnte es nicht begreifen. lch dachte an eine Nacht.

lch ging auf die Straße. Ich verliebte mich wieder. In einen Globalisierungsgegner.

Nächtelang las er Bücher über Steueroasen. Nach der Liebe hielt er mir Vorträge über die Macht der Konzerne. Wir spielten Schach im Bett. Ich konnte ihn stundenlang ansehen. Er wärmte mich von innen. Er brachte mich zum Glühen.

Es gab einen Schweigemarsch zur Reichskristallnacht. lch dachte auch an diesen Stern.

Ich dachte an mich. lch bekam den Abiturpreis für die Jahrgangsbeste in Deutsch.

Mädchen machen mir keine Angst. Sie fragen mich um Rat.

lch ernte Bewunderung dafür, dass mir Worte gewachsen sind statt Brüste.

Jungs nennen mich nicht mehr Skelett aber die Männer Fee.

Ich spreche in einem Theaterstück die Gedichte von Selma, einem jüdischen Mädchen, das im Arbeitslager umgekommen ist. Sie war noch jünger als ich jetzt bin.

Meine Augen sind groß und erschreckt.

Ich brauche kein Gegengewicht.

Ich bin selbst die Waage.