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Aktualisiert am 18.06.10

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Text des Monats >> Rückblick >> Oktober 2007



Christoph Aistleitner
Auf See

An einem Montagmorgen im November holte Herr Meisser sein Boot aus dem blau gestrichenen Schuppen und fuhr auf den Fischteich hinaus. Er geriet in dichten Nebel und fand nicht mehr den Weg zurück. Lange Zeit irrte er umher.

Der Teich war hundert Meter lang und halb so breit, und Herr Meisser war zunächst verwundert, dass er das Ufer nicht finden konnte. Unter ihm sah er die großen Karpfen träge taumeln, die er seit Jahren züchtete und für die er den ersten Preis bekommen hatte bei der Landestierschau. Herr Meisser ruderte und ruderte und schließlich rief er, aber das Ufer konnte er nicht finden. Als sich der Nebel lichtete sah er sich von einer weiten Wasserfläche umgeben.

Zugegeben, dachte Herr Meisser, der Teich hat einen Abfluss, der nach einigen Kilometern in die Donau führt, aber er hätte doch bemerken müssen… und spätestens beim Kraftwerk in Ybbs… Aber scheinbar war er noch weiter abgetrieben worden. Herr Meisser blickte empor. Die Sonne stand im Zenit über wolkenlosem Himmel. Weit entfernt leuchtete der Kondensstreifen eines Flugzeugs. Herr Meisser kostete das Wasser. Es schmeckte salzig.

Nach vielen Stunden wurde sich Herr Meisser des Ernsts der Lage bewusst. Er hatte nichts zu essen mitgenommen, obwohl ihm seine Frau dazu geraten hatte. Auch zu trinken hatte er nur vier Flaschen Bier in einem Plastiksackerl, und eine Angel hatte er dabei und Würmer und einen Autoschlüssel und hüfthohe Gummistiefel und eine Lesebrille – das war alles. Herr Meisser weinte leise eine halbe Stunde. Dann zog er den Anorak aus, obwohl es ihm seine Frau verboten hatte, und schließlich zog er auch den Pullover aus und das Hemd. Trotzdem schwitzte er. Die Sonne brannte vom Himmel. Herr Meisser blickte ins Wasser. Es schien endlos tief zu sein. Weit unten konnte er Fische sehen, aber er war nicht sicher ob es sich um Karpfen handelte.

Die Sonne senkte sich ins Meer und färbte es blutrot. Es war der schönste Sonnenuntergang seit langem. Dann wurde es kalt. Wind kam auf, und das Boot schaukelte auf den Wellen. Herr Meisser versuchte zu schlafen, aber es gelang nicht. Einmal meinte er das Tuten einer Schiffssirene zu hören und ein andermal das Piepsen beim Rückwärtsfahren des Müllabfuhrautos, aber das war wohl beides eine Täuschung. Eine Täuschung, dachte Herr Meisser, eine Fata Morgana, und plötzlich war er überzeugt dass es sich auch bei dem Wasser ringsum um eine Täuschung handeln musste, und er kostete und es schmeckte immer noch salzig, und dann ging die Sonne wieder auf, und Herr Meisser beschloss in Richtung Osten zu rudern, weil das in Europa jene Richtung ist in der sich immer Festland befindet, während man in Richtung Westen in den Atlantik gelangen kann auf dem man hoffnungslos verloren ist. Nach vier Stunden aber wurde er müde; er hörte auf zu rudern und begann zu fischen. Er fing einiges, aber keine Karpfen. Widerstrebend verschlang er sieben ganze Sardinen und ein Makrelenfilet, und erst da wurde ihm bewusst dass er wohl oder übel in Kürze verdursten musste, auch wenn er noch einige Würmer hatte um Fische zu fangen und roh zu verspeisen – das Bier hatte er schon innerhalb der ersten zwei Stunden auf See getrunken. Am Abend aber zog ein Sturm auf, und Herr Meisser konnte in seinen hüfthohen Gummistiefeln zwanzig Liter klaren Wassers sammeln. In dieser Nacht hörte er keine Geräusche, aber einmal meinte er in der Ferne das leuchtende Reklameschild am nahe gelegenen Supermarkt zu erblicken. Er ruderte in diese Richtung, fand aber nur eine Horde phosphoreszierender Quallen, die sich gegenseitig verspeisten. Herr Meisser ritzte zwei Kerben in die Bootswand; für jeden Tag auf See eine.

Nach sieben Tagen meinte er den Verstand zu verlieren. Seinen Autoschlüssel und die Lesebrille hatte er tatsächlich verloren. Die Sonne brannte vom Himmel. Herr Meisser versuchte Längen- und Breitengrad zu berechnen, kam aber auf widersinnige Lösungen und ließ es schließlich bleiben. Am achten Tag fing er einen viereinhalb Meter langen Schwertfisch. Wenn das meine Frau sehen könnte, dachte er, und musste erst lange lachen und dann lange weinen. Er versuchte aus Schwertfischschwert und Anorak ein Segel zu basteln, aber es wollte nicht so recht klappen, und dann versuchte er aus Angel und Schwertfischflossen einen Sonnenschutz zu basteln, aber auch das ging schief und Herr Meisser wurde wütend und fluchte lauthals und lästerte Gott, etwas das ihm zuhause streng verboten war. Danach fühlte er sich befreiter.

Am vierzehnten Tag meinte Herr Meisser immer noch seinen Verstand zu verlieren. Er spielte Schach gegen sich selbst. Er erfand Kreuzworträtsel und löste sie. Er gab seinen hüfthohen Gummistiefeln Namen und sprach mit ihnen. Das Salzwasser zerfraß seine Haut. Das Haar wurde bleich und fiel aus. Die Fingernägel wurden erst weiß und dann schwarz. Tagsüber meinte er manchmal Schiffe in weiter Ferne zu sehen. In der Nacht meinte er blinkende Lichter am Himmel zu sehen. Am siebzehnten Tag fand er einen Lorbeerzweig am Wasser treiben.

Nach einundzwanzig Tagen machte Herr Meisser sich keine Sorgen um seinen Verstand mehr. Er war überzeugt davon längst völlig verrückt geworden zu sein. Mit den hüfthohen Gummistiefeln sprach er nicht mehr – er hatte sich mit den beiden zerstritten. Er fing Fische und verwendete sie um weitere Fische zu fangen. Selbst aß er kaum etwas. Er hatte versucht zu beten, war sich dabei aber lächerlich vorgekommen. Er schlief viel und wartete.

Am achtundzwanzigsten Tag erwachte Herr Meisser erst sehr spät. Müde schlug er die Augen auf und blickte in den dichten Nebel, der über der See lag. Plötzlich aber war er mit einem Schlag hellwach. Er richtete sich auf. In der Ferne hörte er Möwen kreischen und den Schlag der Brandung an felsiger Küste. Dann konnte er eine Landmasse erkennen, die sich dunkel in dunstiger Ferne abzeichnete. Es wird gut, dachte er. Ich komme nach Hause.

Wenig später wurde seine Leiche von einem schlechtgelaunten Liebespärchen entdeckt, das sich im Schatten des blau gestrichenen Bootsschuppens am Autorücksitz vergnügt hatte. Leblos lag Herrn Meissers Körper im Boot, das wenige Meter vom Ufer entfernt auf den Wellen schaukelte. Eine ins Wasser hängende Hand hatten die Karpfen bereits abgeknabbert.

Mit diesem Text gewann Christoph Aistleitner aus Graz in Österreich den Hattinger Förderpreis für junge Autoren 2007 (Jurypreis).