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Aktualisiert am 18.06.10

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Text des Monats >> Rückblick >> Dezember 2002


Susanne Heinrich (Publikums-Förderpreissiegerin der Literaturtage 2002)

Zungenkrieg.

Drüben auf dem Hügel. Aber es gab kein Drüben und auch keinen Hügel. Es gab nur das stinkende Schulklo, auf dem sie sich immer trafen. An der Tür stand: nur für Nutten, Lehrer und andere Schweine raus. Außerdem: School is brain manipulatzion. Mit tz.

Dann versuchte er, ihre Lippen zu treffen, im Halbdunkel der Neonfunzel. Und musste daran denken, dass jetzt Elektronen zwischen Elektronenschalen hin und her sprangen. Hinter Glas. Die Lampe fiel aus.

Seine Zunge war ein wenig pelzig, er hatte Salami Pizza gegessen, und ihr Mund war sperrangelweit offen. Sie hatte noch nie geküsst.

Dann nahmen sie sich an der Hand und er sagte, dass er Liebesgeschichten im Fernsehen doof fand. Sie verstand nicht, warum, und wusste nicht, ob sie ihn noch einmal küssen sollte.

In Deutsch redeten sie über Platon, die 2-Hälften-Theorie.

Als sie zu Hause war, machte sie den Abwasch, und dachte, dass sie zu selten an ihn dachte. Dann versuchte sie, seinen Namen auf Papier zu malen. Ein Herzchen drum in rosa. Und dann drüben auf dem Hügel. Oder doch lieber Küssen verboten.

Die Herzen wurden alle schief, und sie hörte auf damit und zerriss das Papier in kleine Fetzen. Die warf sie aus dem Fenster und sah ihnen nach. Einige trafen die Nachbarskinder, die sich zum siebenundzwanzigsten Male mit Platzpatronen abschossen.

Als sie in den engen Umkleidekabinen stand, deren Vorhänge nur vom Hals bis zum Oberschenkel reichten, zog sie sich Hosen an, die sie nicht kaufte. Und setzte Hüte auf, die ihr nicht passten.

Vor den Bars in der Stadt blieb sie stehen und nahm sich vor, drinnen laut zu lachen und Gin zu bestellen. Schaffte es dann doch nicht und ging zu Mc Donalds, um sich einen Burger zu kaufen, von dem man Pickel bekam. Den aß sie ganz oben in der Ecke. Dazu Fanta. Blieb unbemerkt.

Draußen rissen sich die Wolken um den Himmel. Und drinnen war es schwülwarm und fettig. Die Frau an der Kasse trug ein Dauerlächeln mit sich herum, die Klos steril. Die Müllbeutel voll, Juniortüten als Liebesersatz, alte Leute mit den Enkeln lernten die Worte „geil“ und „superlecker“. Der Burger schmeckte nach Fisch und Fruchttasche, die Fruchttasche danach hatte einen leichten Geflügelgeschmack. Alle hatten gute Laune. Generationsfrieden. Happiness. Gegelte Haare von oben, die Jungen hatten nackte Mädchen auf mayonnaisebeschmiertes Papier gemalt und husteten Rauch und Lachen. Sie sah zu, die Mädels waren dürr, hatten eine schmale Taille und einen dicken Hintern. Eine Schachtel Cabinet auf dem Tisch. Von Mensch zu Mensch.

Bevor sie zurück ging, las sie in der Bibliothek in Liebesgeschichten, von denen sie nie genug bekam. Dafür schämte sie sich.

Am Abend sah sie „Dirty Dancing“ auf Video. Zum dritten Mal. Allein. Aß dazu Kartoffelchips und trank viel Wein, um lachen zu können. Ihre Mutter bügelte nebenan Unterwäsche.

Der Vater sah Nachrichten von der Karocouch aus, freute sich über die guten. Es gab wenige.

Sie wollte nie tanzen lernen. Nur tanzen können.

Als sie aus dem Fenster sah, war bereits Nacht.

Sie überlegte, wie es sich anfühlte, zu lieben. Glück im Neonlicht, Lachen auf Glanzpapier – amerikanische Liebe jede Nacht. Konnte sich ihr Gesicht im Spiegel nicht in den Händen eines anderen vorstellen. Vielleicht war Liebe auch nur das Gefühl, sich zu spiegeln. Oder eben das Gegenteil von sich zu finden, die Ergänzung. Und das festhalten zu wollen. Und loslassen zu müssen.

Sie sah in den Spiegel und küsste das kalte Glas. Wünschte sich, zu wissen, wie sich die eigenen Lippen anfühlten.

Dann lief sie einige Stunden durch den Park und sah sich zu Hause Bilder an, die sie als Kind gezeichnet hatte. Es kamen keine Jungen darauf vor. Nur Sonnen, Blumen, und hin und wieder ein Auto ohne Abgase und ein Haus mit vielen Fenstern. Ihre Blumen waren immer rot gewesen und die Menschen bestanden aus Lachen mit Beinen.

Dafür war sie zu alt geworden, auch ihre Stimme war jetzt eine andere, und die Puppen, mit denen sie damals gespielt hatte, waren längst mit Schnurrbärten und Tatoos auf der Haut bemalt.

Sie wollte am nächsten Tag krank sein, um nicht seine Zunge in den Rachen geschoben zu bekommen.

Er erwartete sie vor dem Schultor. Fuck you gleich neben Andy, ich liebe nur dich und Anne hat die größten Titten. Sie würde bald weg sein von der Schule. Das Gebäude lag halb in der Sonne, sein weißes Gesicht auch, und sie ging möglichst lässig und schlenkerte ihre Tasche dazu.

„Hallo.“

„Hallo.“

Ihre Zungenspitzen verflochten sich, ihre klemmte fest in seiner Zahnspange, sie wurde rot, machte sich frei, biss sich auf den Lippen herum, scharrte mit dem Fuß auf den Boden und sagte nichts. Er meinte, es sei schönes Wetter.

„Sonne“, bestätigte sie.

Er nickte nicht und sie gingen hinein, Hand in Hand.

Bald würde das Abi kommen, und jetzt Biologie. HI-Viren, die eigentlich ganz niedlich aussahen mit ihren grünen Knubbeln. Helferzellen, Freßzellen, Zellmanipulation.

Sie schmiss das Frühstücksbrot in den Müll, weil Wurst drauf war und sie eben beschlossen hatte, etwas anders zu machen und heute Vegetarierin zu sein.

In der Pause trafen sie sich im Klo, auf der Schüssel neben ihnen ein gelber Fleck, dazu sagte er, dass er sie liebte, und sie antwortete nichts, weil sie die Szene kannte und zu oft gesehen hatte.

„Ich bin müde“,

sagte sie nur. Er lachte wie über einen Witz und fragte dann, ob sie zusammen wegfahren wollten. Ganz weit, irgendwohin, nur zu zweit. In einem Schlafsack, dachte sie, und dann wieder an drüben auf dem Hügel, den es weit und breit nicht gab, und vielleicht war man ja glücklicher, wenn man in der Sonne lebte und es jeden Morgen Pommes zum Frühstück gab. Oder wenn man sich einfach gefunden hatte. Sie war noch nie am Meer gewesen, nur im Bauch der Mutter, aber das Gefühl hatte sie vergessen. Vielleicht nie gewusst.

Er steckte ihr die Zunge in den Rachen und sie hustete.

Nach dem Unterricht gingen sie ins Eiscafé und aßen zusammen einen Eisbecher für Verliebte. Er erzählte von Italien, sie dachte an Frankreich, dachte, dass es zu oft hieße „Je t’aime, mon amie“ und zu wenig „Et toi?“ und eigentlich wusste sie nichts von Frankreich, außer dass man Käse aß und immerzu „Oui, monsieur, je suis bien“ sagte.

Das Bild im Café hing schief. „Der Kuss“ von Klimt. Die Frau hatte schönere Haut, und bestimmt duftete sie auch nicht nur nach „Fa. Sunny Melon.“

Sie erinnerte sich, dass sie ihn nie besonders attraktiv gefunden hatte. Aber er hatte es unkompliziert gemacht und sie auf der Hofpause gefragt und ihr eine Kippe angeboten. Die Zigarette war die erste, der Freund auch, und eines ohne das andere ging nicht. Sie hatte nichts mit ihm gemeinsam.

Eine Zeit lang hatte man sich einfach vollgeschwiegen, bis er sagte, dass sie schön sei. Darauf lachte sie. Es war ein Tag, an dem sie sich die Haare nicht gekämmt hatte.

Das Mädchen fragte sich, was man tun müsse, wenn man verliebt sei. Und hatte sich alles anders vorgestellt. Sich am Sandstrand warm eingraben lassen. Zusammen Wein trinken. Vor dem Kino im Regen stehen und tanzen. Auf seinem Rücken durch die Stadt getragen werden. Er kannte keinen Frauentag, und zum Valentinstag hatten sie sich, wie immer, auf dem Schulklo getroffen. Er hatte ihr einen roten Teddybär geschenkt. I love you. Das „u“ war zerkratzt. Er trug eine blaue Sonnenbrille. Wenn man ihm auf den Bauch drückte, lachte er und wedelte mit den Armen. „I love you“ fand sie nicht zum lachen, und wenn man dem Teddybär zu lange auf den Bauch drückte, schmiss er die Arme so heftig in die Luft, dass er aussah, als habe er Epilepsie. Den Tag darauf hatte sie ihm die Batterie herausgenommen und den Faden, der die Sonnenbrille an seinen Ohren befestigte, zerschnitten. Darunter hatte er keine Augen, mit denen er stumm glotzen konnte.

Als sie mit dem Eis fertig war, gab sie ihm die Hand. Er zog sie zu sich heran und presste seine Fischlippen auf ihre. Hauchte und sog. Ohne Zunge.

Am Abend saß sie auf dem Bett. Kling Klang, du und ich. Packte einen Koffer, auf dem ein Bild von „Die Schöne und das Biest“ klebte. Machte die Poster im Zimmer ab, über die sie längst hinaus gewachsen war. Diesmal traf sie mit den Schnipseln eine tote Maus, die unter dem Fenster lag. Die beerdigte sie im Garten und spielte ihr why does it always rain on me, häufte mit bloßen Händen Erde an, zu einem flachen Hügel. Pflanzte darauf Vergissmeinnicht.

Später suchte sie einige Sachen zusammen und packte dann einen Schlafsack ein, der nach Parfum roch.

Am Abend telefonierte sie mit dem Schweigen auf der anderen Seite. Der Piepton war hell und unfreundlich, aber geduldig. Sie konnte schweigen, wenn sie wollte. Oder reden.

„Ich habe einszweidrei verloren“, flüsterte sie. Schwarz aus dem Hörer, Metallsingsang.

„Das Verlieren geht ganz einfach. Meine Träume sind zu klein. Oder meine Angst zu groß.“

Tuut. Tuut.

„Du bist doof“, warf sie in den Hörer. Und wünschte sich eine Stimme, die sie anschrie. Oder wenigstens Atem in den Hörer blies. Draußen schlugen Bäume mit Ästen nacheinander, rangelten Winde, kämpften Wolken. Und sie wünschte sich den Sturm nach drinnen, wo alles still war.

Tuut. Tuut.

Unter einem Dreiviertelmond träumte sie, dass sie inmitten ihrer Bekannten stand. Sie war die einzige, die nackt war. Keiner bemerkte es.

Am anderen Morgen auf der Schultoilette:

Er strich ihr das Haar zurück und kaute ihr einen Kaugummi vor. Dann verewigten sie sich auf einer gelben Kachel mit ihren Initialen. Sein Herz war besser gelungen. Er steckte ihr einen Zettel zu, auf dem stand, dass sie sich am Abend treffen würden, um zusammen wegzufahren. Weit weg. Am Bahnhof, Gleis 4. Er war mit schwarzer Tinte geschrieben.

Der Nachmittag verging in Sekunden. Auf den Pflastersteinen rutschten erste Dämmerungsschatten aus. Sie sah der Sonne zu, wie sie sich aufpumpte für ihren letzten Akt. Dazu hörte sie keine Musik, weil es die erste Stille war, die nicht lähmte, noch forderte.

Sie nahm ihren Koffer, hatte sich Bonbons gekauft und Cola, die ihr nicht schmeckte, aber einen besseren Eindruck machte. Der Mutter ließ sie keinen Zettel zurück, weil sie sich selbst nicht verstand. Dann nahm sie den Mantel vom Ständer, ging in ihr Zimmer und stellte die Heizung ab. Der Blick aus dem Fenster: Stadtlichter. Ihr war nie aufgefallen, dass es aussah wie ein bunter Himmel.

Gleis 4. Züge quietschten. Die Stimme aus dem Lautsprecher weiblich. Klick Klack, Damenschuhe, Klingelton: Deutschlandhymne und Join me in death. Hundert Meter weiter ein Schatten, der zu ihm gehörte. Sie blieb noch stehen, zögerte, ging dann zurück und kaufte sich drei Cheeseburger. Hatte gehört, dass die Zusatzstoffe Falten verursachten. Und Cola zehrte die Leber auf. Als ihr schlecht war, rauchte sie und fand sich hübsch dabei. Wie sie sich in den Drehtüren der Bahnhofshalle spiegelte.

Ein Blumenmann warb mit Rosen für sein Geschäft an der Ecke. Es war die erste Rose, die sie geschenkt bekam. Ohne Dornen.

Vielleicht, dachte sie, habe ich zu wenig geträumt. Kam mit zu wenigen fertigen Bildern, als dass ich hätte wählen können, ob ja oder nein.

Dann ging sie zum Gleis 4 zurück und direkt auf ihn zu. Zwei Turnschuhlängen Abstand. Er hatte einen Rucksack und einen Schlafsack in der Hand. Lächelte.

„Ich komm nicht mit“, sagte sie.

Er hob den Kopf, senkte ihn, sah nach links und dann nach rechts, aber sie stand nur vor ihm und schwieg jetzt. Dann nach oben, wieder nach unten, wieder nach vorn.

Dann nickte er und sagte, dass es schade sei, irgendwie. Sie nickte auch und sagte, ja, es sei schon

schade. Hm. Dann Kaugummischweigen und Blicktausch, der sich irgendwo verhedderte und dann stecken blieb, ganz in der Nähe ihrer hellblauen Augen, in denen er sich gern spiegelte.

Sie standen voreinander und dann sagte sie: „Und auch so. Glaube ich. Ist jetzt irgendwie vorbei.“

Er nickte wieder. Sie auch.

Wir können ja trotzdem Freunde bleiben fehlte. Stattdessen fragte er leise: „Trinken wir noch einen Milchkaffee zusammen?“ und sie nickte froh, weil sie auf Toilette musste.

Schade, dachte sie, ich wäre gerne nach Italien gefahren. Vielleicht ist die Sonne dort heller. Oder anders. Liebe war überall gleichschwer.

Schritte nebeneinander, durcheinander. Sie nahm seine Hand nicht und er nicht ihre. Sie war froh, dass es so einfach war. Den Teddybären würde sie ihm zurück schenken. Ohne Brille. Ohne Augen.

Im Café verbrannten sie sich die Zungen und er fragte, ob sie ihn ein letztes Mal küssen würde.

Eilig schüttelte sie den Kopf und er nickte müde. Dann ging er nach Hause, mit einem großen Schlafsack, in dem sie nie geschlafen hatten. Der ihren Duft nicht trug. Und kein Haar.

Er schenkte ihr keine Rosen zum Abschied und nahm den Teddy nicht zurück. Am nächsten Morgen

sahen sie sich nicht auf der Schultoilette. Sie stand vor der gelben Kachel. Das Herz war klein geraten und noch da. Daneben stand: love kills! Sie war glücklich, das Gefühl vergessen zu haben, wie sich seine Zunge um ihre wickelte. Dann lachte sie ganz laut, weil sie es lange nicht gemacht hatte. Ein wenig Angst, es verlernt zu haben.

Draußen regnete es jetzt.

Und drüben unterm Hügel lag die tote Maus.