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Aktualisiert am 18.06.10

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Text des Monats >> Rückblick >> Dezember 2005



Manuela Hartung

Spurwechsel

„Meike, gehst du in die Stadt? Könntest du mir eine Packung Rosinen mitbringen, sie sind mir grade ausgegangen und ich brauche noch welche für den Käsekuchen für morgen.“
Die Hand am Türpfosten stöhne ich hörbar und rufe ein: „Klar, Mama“ in die Küche.
Meike tu dies, Meike tu das...Meike, könntest du kurz...Meike, wo du doch schon...Meike, es macht dir doch keine Mühe...wie ich es hasse.
Val wartet schon unten an der Tür. „Mensch, wo bleibst du denn?“
Meine Ma hatte die Jacke verkramt. Erinnere mich dran, ich muss noch Rosinen kaufen.“
Val stößt verächtlich die Luft aus. „Wann hörst du endlich auf ihren Laufburschen zu spielen? Ich glaube, ich kenne den Supermarkt mittlerweile auswendig. Erstes Regal Orangensaft, zweites Regal Apfelsaft, drittes Regal Eistee. Das geht mir auf die Nerven.“
Glaubt sie, mir nicht?
Sie ist krank“, verteidige ich meine Mutter, obwohl ich ja selbst wütend bin.
Ja, und sie tut nichts, um es zu ändern. Die Diskussion hatten wir schon oft genug. Sag mal, hast du was mit deinen Haaren gemacht?“
Ich fahre mir mit der Hand über die rechte Kopfhälfte, wo die Haare wesentlich kürzer sind als links. Ich zucke die Schulten. „Lukas hat die Schere in die Finger bekommen, ich war im Sessel eingeschlafen.“
Ich hätte ihm die Haare abrasiert.“
Mein Gott, ihm war langweilig. Außerdem hätte ich nicht schlafen dürfen.“
Außerdem hätte deine Mutter auf ihn aufpassen müssen, nicht du.“
Val...“
Keine Diskussion!“, unterbricht sie mich. „Der Abend gehört uns und nicht ihr. Verbann deine Familie aus deinem Hirn, ich will nichts mehr hören.“
Du hast doch gefragt“, protestiere ich.
Und jetzt frage ich nicht mehr. Also, was sollen wir machen?“
Keine Ahnung. Skaten gehen?“
Nicht schoooon wieder. Wir waren die letzten vier Tage ständig skaten. Und ich hab keine Lust, Kalle zu begegnen. Lass uns lieber ein paar Körbe werfen.“
Mein Ball ist hinüber.“
Meiner nicht. Komm schon.“
Die Hände in den Hosentaschen schlendern wir die Straße hinunter, hin und wieder fährt ein Auto an uns vorbei, zwei von ihnen hupen, weil Val mal wieder halb auf der Straße läuft. Sie droht den Fahrern mit der Faust und ich bin froh, dass die nicht anhalten. Ein paar Glatzen kommen uns entgegen, versuchen uns mit ein paar Ausfallschritten Angst einzujagen, lassen aber dann doch die Finger von uns.
Will ich denen auch geraten haben“, knurrt Val. Ihr Bruder ist ein hoch angesehenes Tier bei den Punks in der Stadt. Wenn ein Skin es auch nur wagen würde sie anzufassen, würde das einen Kleinkrieg heraufbeschwören. Letztes Jahr wäre es fast dazu gekommen, als den Skins noch nicht klar war, mit wem sie es zu tun haben. Kalle hat drei Glatzen halbtot geschlagen. Ich glaube, er sieht sich als ihr Ersatzdaddy oder so, weil ihr Vater abgehauen ist, als sie sieben war. Meiner ist schon eher gegangen.
Val zieht eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche. „Auch eine?“
Ich habe seit gestern nicht angefangen zu rauchen.“
Sie zuckt leichthin die Schultern. „Dann eben nicht.“
Reine Rebellion. Val raucht nur kurz bevor sie nach Hause geht, etwa ein oder zweimal am Tag also, nur damit ihre Mutter sauer wird weil sie denkt, Val würde regelmäßig rauchen. Heute war sie wahrscheinlich noch nicht da, wenn es sich vermeiden lassen würde, ginge sie gar nicht mehr nach Hause. Deshalb pennt sie öfters bei mir.
Valerie, hast du schon wieder geraucht?“, keift ihre Mutter direkt, als wir die Wohnung betreten. Das ist obligatorisch, sie kann es gar nicht gerochen haben.
Ja, Mama“, antwortet sie, mit der Kleines-braves-Schulmädchen-Stimme. „Hast du schon wieder gesoffen?“
Ein unangenehmer Geruch aus der Küche zeigt mir, dass Val’s Ma heute wohl weder gespült, noch gelüftet hat, was bedeutet, dass sie tatsächlich den ganzes Tag gesoffen hat. Wir bahnen uns einen Weg durch diverse Schuhe und Jacken, die mitten im Flur herumliegen und stolpern in Val’s Zimmer, wo die Suche nach dem Basketball beginnt. Sie hat im Gegensatz zu mir ein Zimmer für sich alleine, weil Kalle im Wohnzimmer schläft. Ich muss mir meins mit Lukas teilen.
Mama, hast du meinen Ball weggeräumt?“
Was für ein Ball, Schätzchen?“
Sie scheint die patzige Antwort von grade schon vergessen zu haben.
Mein Basketball. Ich bin mir sicher, dass ich ihn hier hatte.“
Ich habe ihn nicht gesehen.“
Val wirft mir einen Blick zu, der in etwa sagt: „Habe ich etwa was anderes erwartet?“
Ich hebe eine Lederjacke auf, unter der der Ball zum Vorschein kommt. „Du könntest einfach Ordnung halten in deinem Zimmer.“
Sie faucht mich an und stakst über die Schulbücher hinweg zur Zimmertür, ich folge ihr vorsichtig.
Valerie, gehst du schon wieder weg? Ich dachte, wir könnten vielleicht was zusammen essen. Zu dritt. Mit Nachtisch.“
Ich hab schon gegessen.“ Val zieht die Tür hinter uns zu. „Wahrscheinlich versinkt sie jetzt wieder in einer Depression und öffnet die nächste Flasche Wodka.“ Val spuckt angeekelt aus, obwohl wir noch im Hausflur sind.
Ein älterer Mann schimpft von oben hinter uns her. „Die Jugend von heute!“, keift er mit altersschwacher Stimme.
Ist nur so geworden, weil das Alter einen an der Waffel hat!“, brüllt Val zurück.
Ich boxe sie in die Seite, sie soll mal lernen ihre Klappe zu halten.
Ist doch wahr!“, meint sie. „Da brauchst du mich nicht zu schlagen.“
Wir dribbeln abwechselnd den ganzen Weg zum Schulhof. Der einzige Ort, wo es einen Korb gibt in unserer Gegend, aber keine Gangs rumhängen, so dass man spielen kann ohne Angst haben zu müssen, blöd angemacht zu werden. Val legt direkt einen sauberen Korbleger hin, wir spielen ein wenig Streetball.
Was hattest du eigentlich in Englisch?“
Glatt zwei.“
Val verzieht das Gesicht und wirft einen Korb. „Wo nimmst du noch Zeit zum Lernen her?“
Ich lerne nicht.“
Um so schlimmer. Ich hab die voll verhauen.“
Lern doch.“
Bringt doch nichts. Ich kann es einfach nicht. Außerdem muss man nicht Englisch sprechen können, wenn man Friseuse werden will.“
Und wenn du mal nem Ami die Haare schneidest?“
Hat er Pech gehabt. Ich kriege das übrigens wieder hin, wenn du willst.“ Sie deutet auf meine entstellte rechte Kopfhälfte.
Versuchs heut Abend.“
Sie hält kurz inne und beäugt mich kritisch von allen Seiten. „Ich fürchte, da kann ich nur noch ganz kurz schneiden. Oder ich lass es so aussehen, als wär’s Absicht.“
Klingt gut. Nachher denkt noch einer, ich wäre zu den Glatzen übergelaufen.“
Oh Gott!“ Val wirbelt herum und wirft den nächsten Korb. Ich glaube sie liegt schon 14 Punkte vorne. Sie gewinnt meistens.
Mittlerweile sitzen wir auf der Lehne der Bank, den Ball vor uns auf der Sitzfläche.
Geht deine Mutter immer noch nicht arbeiten?“, frage ich.
Wer würde die denn anstellen, so zu wie sie immer ist?“
Einen Moment scheint es, als ob Val so etwas wie Mitleid zustande bringen würde, aber dann ist ihr Gesicht schon wieder hart. Sie streicht sich eine ihrer lila Strähnen aus dem Gesicht.
Und deine?“
Sie hat das Buch fast fertig. Nur mit den Zeichnungen liegt sie etwas hinten.“
Meine Mutter schreibt Kinderbücher. Ich weiß nicht, ob ihr das Spaß macht, aber dabei muss sie wenigstens nicht aus dem Haus gehen. Sie hat Angst vor Menschen, seit Dad gegangen ist.
Lukas’ Vater ist ab und zu da, aber meistens lässt er über Monate nichts von sich hören. Wir halten uns mit Kindergeld und Alimente über Wasser. So knapp.
Kann ich’s mal lesen wenn es gedruckt ist.“
Dafür muss es erst mal gedruckt werden.“
Pessimist.“
Wieso? Ich habe noch nie wirklich Glück gehabt.“
Doch, du hast mich kennen gelernt.“
Ich muss lachen und lehne meinen Kopf an ihre Schulter. „Das ist wirklich Glück.“
Wie es wohl wird, wenn wir mal alt und verschrumpelt sind?“, meint sie.
Wahrscheinlich bist du verheiratet und hast zehn Kinder.“
Ich und heiraten. Bin doch nicht blöd.“
Dann eben ein Freund und zehn Kinder.“
Kindern kann man mich nicht zumuten. Lass mal stecken. Müssen wir nicht Rosinen kaufen? Die Läden machen gleich zu.“
Ich seufze und jumpe von der Lehne. Im Supermarkt halten die uns bestimmt auch für bescheuert, weil wir circa jeden zweiten Tag da auftauchen und irgendetwas kaufen. Brot und Waschpulver und Himbeeren und Klopapier.
Mama, Val pennt hier, ist das okay?“
Natürlich. Hi Valerie. Danke für die Rosinen, Schatz.“
Bitte“, murmele ich. Lukas sitzt am Schreibtisch und macht Hausaufgaben. Er ist letztes Jahr eingeschult worden und ich bin Gott ernsthaft dankbar, dass Mama wenigstens für seine schulischen Leistungen die Verantwortung übernimmt. Die meiste Zeit des Tages verbringt sie mit fernsehen. Sie sagt, da würde sie Inspirationen sammeln. Erst um fünf Uhr nachmittags wacht sie aus ihrer Traumwelt auf, als hätte jemand einen Wecker dafür gestellt. Dann macht sie ein wenig Hausarbeit und hilft Lukas beim Lernen. Jeden Tag um fünf verlasse ich das Haus.
Hi Micki“, murmelt er, ohne aufzublicken. Er versucht sich an der komplizierten Schreibschrift, strengt sich so an, dass sogar seine Zunge aus dem Mundwinkel guckt und die Schnörkel mitzieht. Val schmeißt ihren Ball auf mein Bett, dann zieht sie mich ins Bad, wo sie im Schrank nach einer ordentlichen Haarschere sucht. Währenddessen halte ich den Kopf unter Wasser, weil nasse Haare sich besser schneiden lassen.
Ich glaube, dir würden sogar gar keine Haare stehen.“
Wage es nicht.“
Ich mein ja nur. Du hast ne schöne Kopfform, nicht so eirig wie ich.“
Dein Kopf ist nicht eirig.“
Hast du Ahnung oder ich?“
Ich knurre nur.
Irgendwann solltest du es mal ausprobieren.“
Mal sehen.“
Val schafft es tatsächlich, meine Frisur wieder nach etwas aussehen zu lassen. Lukas wird bestimmt enttäuscht sein, aber er lässt sich beim Essen nichts anmerken. Vielleicht, weil Mama zum ersten Mal seit Wochen wieder etwas gekocht hat, das nicht aus der Dose ist. Wo sie die Zutaten für die Suppe her hat will ich gar nicht wissen. Wenn ich mich recht entsinne ist es sehr lange her, dass ich so was eingekauft habe.
Ich muss morgen eher zur Schule.“
Warum?“, fragt Mama nach.
Ich muss noch ein Projekt vorbereiten. Für Physik.“
Was ist mit Lukas?“
Ich kann ihn nicht wegbringen morgen.“
Mama legt den Löffel zur Seite und sieht mich durchdringend an. „Meike!“
Val legt mir unterm Tisch die Hand aufs Knie. Ich soll nicht nachgeben.
Es geht nicht. Seine Schule hat um die Uhrzeit noch nicht auf.“
Er kann noch nicht alleine gehen.“
Ruf doch seinen Vater an.“
Meike, werd nicht frech!“
Ich bin nicht seine Mutter“, erwidere ich kalt. Lukas starrt seine Suppe an.
Du wirst ihn...“
Nein!“, gifte ich, springe auf und lasse die Suppe stehen. Ich schmeiße mich aufs Bett und betrachte die Flecken an der Wand. Müsste mal gestrichen werden. Val setzt sich neben mich und streicht über meine Schulter.
Du bist wirklich nicht seine Mutter, Micki. Und du bist auch nicht deine.“
Ich habe Angst, dass ich anfangen könnte zu heulen. Val soll nicht gehen. Sie wird auch nicht gehen. Wir würden uns nie im Stich lassen. Niemals. Manchmal weiß ich nicht, ob mein Leben so auf der richtigen Spur verläuft. Wohl eher auf dem Randstreifen.


Manuela Hartung, 17 Jahre alt, aus Werdohl gewann mit diesem Text einen Jurypreis beim 15. Hattinger Förderpreis für junge Literatur 2005.